Ein „Anschlag auf die Wirklichkeit“

„Mein Bücherregal ermahnt mich, in meinen Träumen regelmäßig,
 dass es viel zu viel von diesem Alkohol tragen müsse.“
Dan Thy Nguyen, in: Die Archäologie meines Unwissens, meines
Sterbens und meiner Liebe,
 in: Buch Handlung Welt. Bücher, Hamburg 2023, S. 84f

Zur Ausstellung „Das Gespenst in der Kurve“ Hilka Nordhausen
in der Hamburger Kunsthalle[1] bis 4. Januar 2026


Hilka Nordhausens Nachlass lag jahrzehntelang in der Obhut ihrer Familie und wurde von Bettina Sefkow verwaltet. Sie publizierte schon 1998 die Geschichte der von der Hamburger Künstlerin gegründeten Buch Handlung Welt. dagegen dabei erschien im Michael Kellner Verlag und machte zugleich eine Reihe von erhellenden Beiträgen zur Geschichte der alternativen Kunstszene in Hamburg zugänglich. Nun, 32 Jahre nach ihrem Tod nahm die Hamburger Kunsthalle den Nachlass der Künstlerin an, die 1993 in Berlin starb. Ihr Werk wird mit der Ausstellung „DAS GESPENST IN DER KURVE“ bis zum 4. Januar 2026 vorgestellt. Interessenten sollten sich nicht dadurch beirren lassen, dass die Kunsthalle es unterlassen hat, die Ausstellung im Flyer Kunst in Hamburg anzukündigen. Folglich hat etwa art-line IV/2025 diese Ausstellung weder in ihrer Ausstellungsübersicht genannt noch rezensiert. Obwohl die Gründe für dieses Versäumnis nicht ermittelt werden konnten, die die Bemühungen der Kuratorinnen der Ausstellung Corinne Diserens und Jana Pfort ins Leere laufen lassen, bleibt doch zu hoffen, dass sich diese Ausstellung über zwei wichtige Jahrzehnte spezieller Entwicklungen der Kunst in Hamburg unter Künstler*innen und Interessierten herumspricht.

Die Distanz überbrücken

Das Versäumnis wirft allerdings Fragen danach auf, warum man noch nicht begriffen hat, dass die Bedingungen für die Kunststudent*innenjahrgänge Anfang der 1970er Jahre besondere waren. Die Museen in Deutschland hatten die großen Lücken, die durch die Kunstbarbarei der Nazis aufgerissen worden waren, zu schließen. Auch hatten sie alle Hände voll zu tun, Künstler wie Joseph Beuys und Dieter Roth zu verstehen, die den Krieg als junge Erwachsene erlebt hatten. Andere wie Max Ernst und Josef Albers kamen nicht aus dem Exil zurück. Die während des Kriegs und danach geborenen Künstler*innen kamen dabei zu kurz, zumal man sich auch noch der, um Jahrzehnte weiterentwickelten, Kunst der ehemaligen Feinde zuzuwenden hatte. Man hatte kein Interesse daran, sich über die besonderen Umstände der künstlerischen Sozialisation dieser jungen Künstlergeneration im Aufbruch Gedanken zu machen, zumal man sich noch daran machen musste, Dada, Neue Sachlichkeit und Bauhaus zu verdauen, während die u.s.-amerikanische Sicht schon Fluxus und Pop Art als Neo-Dada verstand. Sodann ließen sich Großsammler wie Ludwig und Sprengel für ihre Sammlungen Museen bauen. In dieser Situation mussten sich die Absolventen der Hochschulen um 1970 eigene Orte für interdisziplinäre Experimente suchen. In Hamburg spielte zudem der Mangel an Ausstellungsorten eine Rolle und da sich die jungen Künstler*innen auch den damals neuen Reprodukionsmöglichkeiten wie Fotografie, Fotokopie und Offsetdruck mit ihren neuartigen Verbreitungsmöglichkeiten stellten, stießen sie zusätzlich noch auf Ablehnung.[2] Um ihre Postition zu bestimmen, mussten sie selbst dafür sorgen, dass ihr Ansatz theoretisch untermauert werden konnte, weshalb sie sich den neuen Bildsprachen schreibend näherten.

Am Anfang stand das Wort

Buch Handlung Welt hieß der Laden in der Hamburger Marktstraße 12. Sein Name fasste titelgebend die Herangehensweise der Generation Nordhausen zusammen. Am Anfang stand BUCH, weil man nicht nur Bilder – die gab es schon damals genug – sondern Argumente brauchte, um seine Position zu begründen. Dabei ging es nicht einmal mehr nur um Theorie und Kunstgeschichte. Wie schon die Surrealisten, von denen man damals zeitlich so weit entfernt war, wie wir heute von den legendären Ausstellungseröffnungen für die jeweils neueste Wandmalerei, benötigte man neben der Theorie auch Poesie und Prosa, um sich in einer Welt zurecht zu finden, die damals von der Kriegsgeneration beherrscht wurde. Die in der Nachkriegszeit geborenen Künstler*innen hatten andere Ambitionen. Auch weil sie „nur“ sekundär traumatisiert waren, richteten sie ihre Kunst- und Wunschproduktion anders aus.

Selbst handeln und performen

HANDLUNG in der Mitte des Namens war folglich ein bedeutender Schlüssel zum Verständnis der Lage der bildenden Künstler in den 1970er Jahren. Fand bis dahin Life Art in den Ländern der Sieger Entfaltungsmöglichkeiten vor, weil es dort aufgrund der exilierten Künstler aus Europa Szenen gab, die das Erbe der Avantgarde z.B. in die USA getragen hatten.[3] Im deutschsprachigen Raum, wo die Protagonisten des Neuen vertrieben und verfolgt worden waren, stießen junge Künstler noch lange auf Skepsis oder Ablehnung und wurden schlimmstenfalls sogar bekämpft. Die in Wien verurteilen Aktionskünstler zogen ins Exil nach Berlin, um der Einkerkerung in ihrem Heimatland zu entgehen.[4]

Um selbstbestimmt experimentieren zu können, war es notwendig, sich Freiräume zu schaffen. In der Buch Handlung Welt konnten monatlich neue, übereinander an die Wand gemalte, geritzte, gezeichnete oder geklebte Bilder entstehen. Sollten sie noch grob von Konventionen beeinflusst worden sein, konnte dieser Vorwurf spätestens mit ihrem Verschwinden, das sie dem Markt für immer entzog, nicht mehr erhoben werden.

Hilka Nordhausen, Ohne Titel (Krokodil), Wandinstallation aus Kartonagen, Ausstellungsansicht in der Ausstellung „Das Gespenst in der Kurve“, Foto: Bettina Sefkow, (2025)

Eigene Arbeiten von Nordhausen gingen noch einen Schritt weiter und verzichteten, bis auf wenige Farbspuren, Buchstaben und zeichnerische Spuren, auf Malmaterialien und -werkzeuge. Zwei ihrer in der Kunsthalle ausgestellten Wandarbeiten bestehen aus entfalteten und aneinandergefügten Kartonagen. Nordhausen huldigte der damaligen Warenästhetik, die gängige Logos auf Verpackungen verbreitete, die mittels Flexodrucks auf ungebleichter Pappe multipliziert wurden. Es fällt auf, dass ihre Wahl Schnapskartons bevorzugte. Sie erinnern an den in den 1970er Jahren florierenden Alkoholkonsum, der gemessen am heutigen Prokopfverbrauch, vor 50 Jahren 50% höher war. (1980 wurde ein Höchstwert von 15,1 ltr. erreicht, der auf ca. 10 ltr. pro Kopf für jeden über 15-Jährigen bis 2020 gesunken ist). Auch damals beliebte Zeitschriften und Magazine hat sich Nordhausen angeeignet, um sie Seite für Seite zu übermalen und so in dunkle und gewellte Schichtobjekte zu verwandeln.

Blick in die Vitrine mit von Nordhausen übermalten stern – Magazinen aus den Jahren von 1980 – 1985

Exzessives Rauchen und Trinken bestimmten die Geselligkeit der Nachkriegsjahrzehnte. Dabei tobten die Traumatisierten des Zweiten Weltkriegs Erinnerungen an Schrecken und Grausamkeiten aus und teilten Unausgesprochenes situativ und rituell mit. Heute kann man das als eine selbstverordnete Traumatherapie sehen, die erst Jahrzehnte später begriffen wurde, als die ehemaligen Soldaten, Flakhelfer und Bombardierten mit schweren Depressionen in der Psychiatrie behandelt werden mussten. Hatten sie sich in Zeiten des Wirtschaftswunders an ihren Arbeitsplätzen betäubt mit Alkohol und Tabletten in den Kampf um ein wachsendes Einkommen für Auto, Haus und Urlaub geworfen, waren sie als Rentner schlagartig mit ihrer Einsamkeit und Vergangenheit konfrontiert. Dann erst, nachdem die Katastrophe längst eingetreten war, erkannten die behandelnden Ärzte die Probleme.

In dieser spukhaften Umgebung der unterdrückten Ängste sehnten sich die Jüngeren danach, die WELT frei von der Hypothek ihrer Eltern zu entdecken. Wer nicht zu denen gehörte, die Familienurlaube jenseits der Alpen bei den ehemaligen Verbündeten verbrachten, trampte in die Nachbarländer, nach Griechenland oder war mangels Geld auf Phantasiereisen mittels Kunst, Musik und Literatur angewiesen. Pop Musik, Rock&Roll und Punk aus England und den USA bestimmten das Lebensgefühl dieser Zeit. Entsprechend waren die Regale der Marktstraße 12 mit amerikanischer Literatur von Emily Dickinson, den Beat Poets sowie Paperbacks und Magazinen aus dem Underground bestückt. Wer in Hamburg hängen blieb, konnte hier auch im Sommer Kunstkataloge, Raubdrucke französischer Philosophen ohne Kaufzwang lesen und diskutieren.

Hinaus in die Welt

In dieser Zeit war auch der Hang zu Sekten verbreitet. In der Buch Handlung Welt konnten diejenigen, die einen Aufenthalt in Poona nicht anstrebten, ihre Asiensehnsucht bei Blättern im Bildband von „LADAK“ stillen, der einem noch heute auf den Fotos der Bücherregale ins Auge springt. Der Wunsch, das „Dach der Welt“ zu erklimmen, war groß, wenn auch in der Marktstraße Esoterisches eine untergeordnete Rolle spielte. Hilka Nordhausen kannte allerdings auch Karawanenwege. In einer der Vitrinen der Ausstellung in der Kunsthalle liegt das Buch „Melonen für Bagdad“ mit dazugehörigen Objekten, darunter nachgeformte Kultmasken, Camel-Zigaretten-Reklame und aus zerknülltem Papier geknetete Kamele, die im Lauf der Jahre durch Vergilbung eine kamelhaarne Farbe angenommen haben. Aus dieser Sicht wird klar, warum Nordhausen ihr Projekt als „Anschlag auf die Wirklichkeit“ bezeichnete. Tatsächlich war es der Widerstand gegen die mit dem Wohlstand umsichgreifende Spießigkeit, die auch das Reisen erfasst hatte und gegen die sich damals eine Gegenkultur mit Drogen, Tunix und Punk formiert hatte. Was in Hamburg von dem „Anschlag auf die Wirklichkeit“ blieb, kann man durchaus als das Erbe von Nordhausen begreifen, deren Initiative eine bis heute in der Hansestadt blühenden Kultur der von Künstler*innen geführten Projekträume begründete.

© Johannes Lothar Schröder

[1] Der Text ist weiter gefasst, als es für eine Rezension üblich ist, weil trotz der Ausstellung hinsichtlich des Status der Künstlerin und der interdisziplinären Bedeutung ihres Wirkens Klärungsbedarf besteht.

[2] Über die Situation in Hamburg bis in die 1990er Jahre vgl. J. L. Schröder, abhängen. Bilder und Gefühle verwerfen, Hamburg 2022, S. 122 – 124

[3] Als wichtiges Beispiel ist das Black Mountain College zu nennen, das ein Ort der Lehre und des Experiments für schutzsuchende Künstler wie Josef und Anni Albers sowie Xanti Schawinski wurde, an dem folgerichtig 1952 ein Protohappening stattfand. Ausstellung BLACK MOUNTAIN – ein interdisziplinäres experiment. 1933-1957, Hamburger Bahnhof, Berlin, Katalog, Spector Books, Leipzig 2015

[4] 1969 flüchtete Günter Brus mit seiner Familie nach Berlin, wo er mit Gerhard Rühm (einer der Lehrer von Nordhausen an der HfBK) und Oswald Wiener die „Österreichische Exilregierung“ gründete.

Aus der Vergangenheit die Zukunft erreichen

Beobachtungen zu Fruits of Life, Tanzzyklus 2, 22. – 23. Februar 2025 in der Lokremise in St. Gallen

von Johannes Lothar Schröder

Das Eröffnungsritual Préparations aux urgences von Veronika Fischer machte klar, dass die Alten schon deshalb auf Bühnen mit anwesend sind, weil sie in nahezu Jedem und Jeder Spuren hinterlassen haben. Fischer zog eine Anzahl von Gegenständen hervor, benannte sie und empfahl: „Packe alles in ein bis drei hölzerne Zigarrenkisten und verwahre diese für Notfälle jederzeit griffbereit ganz hinten in deiner Wäscheschublade.“ Wer kennt nicht die magischen Qualitäten der Erinnerungsstücke, die sich im Laufe eines Lebens ansammeln. Sie sind Nothelfer und Refugium der Identität, weil sie die das Gedenken an ihre Fundorte und die Begleitumstände ihres ersten Auftauchens wachhalten oder als Gaben oder gar Beutestücke mit wichtigen Personen und Ausnahmezuständen verbunden sind.

Annäherungen und Kämpfe (22. Februar)


Renee Schmalz tanzte zum Gesang von Gabriella Gombas und zur Musik von Jonas Ruedi am Bandoneon. Der Siebte Tag spielte auf die Schöpfungsgeschichte an, die Bibelleser lehrt, wie notwendig und zugleich vergänglich Zufriedenheit über Geschaffenes ist. Gerade Performer*innen wissen, dass paradiesische Zustände im wirklichen Leben eine Momentaufnahme bleiben. Vielleicht hatte Gott Schuldgefühle, als er sah, wie sich Adam und Eva benommen haben.

Foto: Veranstalter

Der Tänzer war äußerlich ein von den Klängen inspirierter alter Mensch. Sängerin und Musikant lockten ihn aus der Reserve, trieben ihn zu Taten, verführten ihn zum Geckentum und zwangen ihn zum Nachdenken. Halbnackt war der vom Leben gezeichnete Körper nicht zu verbergen. Ohne Hilfsmittel war er auf seine Körpersprache zurückgeworfen, wie es die anscheinend „ewigen Gesten“ andeuteten, die nicht allein Michelangelo im Jüngsten Gericht darzustellen versuchte. Auch tänzerische Praktiken wie Butoh vollziehen solche Gesten der auf die Welt geworfenen Menschen variierend nach. Isoliert gesehen, sind sie so tragisch wie lächerlich, so ernst wie beschämend, so verzweifelt wie befreiend. Die Fixierungen, die im Kunstwerk vorgenommen werden, bleiben immer auch eine Fessel, die wie ein Korsett wirkt, solange die Chancen, sich durch Varianten und neue Erfindungen von den Vorgaben zu befreien, nicht ergriffen werden. Es heißt also „sein Feld beackern“, damit es neue Früchte hervorzubringen kann.

Mit tänzerischen, schauspielerischen und gelegentlich an Wrestling erinnernden Sequenzen traten delta RA`i und Julia Frank in Stirb und werde im Anthropozän gegeneinander an. Beide belauerten sich, bis im Laufe der Performance der Wettbewerb eskalierte, in dem beide sich wechselseitig zunächst in Scharmützel und dann in Gefechte verwickelten.

Foto: Veranstalter

Dabei variierte der Darsteller seine Mimik, so dass Gefühlsregungen wie Trotz, Verzweiflung, Resignation, Freude, Genugtuung, Niedergeschlagenheit oder Kampfeslust erkennen ließen, wie ihm zumute war. Rempler, Ringen und Schubsen führen zu Rückzügen und Neuaufstellungen, nach denen beide mit neuen Kräften und geändertem Repertoire bestmöglich agierten, bis am Ende die Performerin resolut zu Werke ging. Sie drückte das Gesicht des Mannes beherzt in eine Fruchtschale drückte, so dass es ihn die Nase verbog und das Obst zerbarst. Voll mit malträtiertem Obst verwandelte sich die Schale in eine Blutschale.

Während sich in den beiden zunächst besprochenen Performances das in Dominanz, Geschicklichkeit, Nachgiebigkeit oder Durchsetzungskraft liegende Konfliktpotential von Beziehungen gestisch und tänzerisch entfaltete oder theatralisch und physisch bis zur Eskalation gesteigert wurde, ging das Duo Hanna Schoensee und Wilma Vesseur äußerst behutsamen miteinander um.

Foto: Veranstalter

Um ihr Thema Folds & Rimpels darzustellen, brachten beide Tänzerinnen Material ins Spiel, dem sie darstellerische Qualitäten verliehen. Koordiniert gingen beide, die auf dem Saalboden bereitliegenden Planen an. Sie ergriffen die Säume und schritten mit ihnen voran, was die Luft in ein Darunter und Darüber teilte, wodurch sich die Stoffe aufblähten und eine Weile schwebten, bis die Wölbungen in sich zusammenfielen und der Stoff absinkend Falten schlug. Die Dynamik, mit der die im Packen angelieferten Planen entfaltet wurden und wie die Dünung am Strand sich erhob, bis sie krisselig auf den Boden sank, erinnerte an lebenslange Veränderungen der Haut, die sich hier im Zeitraffer einer Metapher gleich plastisch veränderte. Die Symbolik der Plane, die eine hohe Welle schlug, entlastete die performenden Körper, weil sich in den Bewegungen des Stoffes eine hauptsächliche Aussage zum Thema des Festivals lesen ließ.

Tiefe Schichten erkunden (23. Februar)

Beim Betreten des Saals zur Performance Metamorphosen von Anna von Siebenthal erblickten die Zuschauer eine geschwungene Mauer aus aufeinander gestellten rotbraunen Kunststoffblumentöpfen. Durch einen der Töpfe ließ die Performerin Sand auf den Boden rinnen. Das geschah wie ein Suchen auch im Sinne eines Orakels. Wir wissen nicht, was sie erforschte, als sie den Bahnen des Sandes nachging und die Wand aus Töpfen in einer ihrer energischen Drehungen einriss. Das Aufsammeln und Zusammenstecken der Töpfe ließ Teilstücke einer Säule aufwachsen, die ihre Körpergröße schließlich überstieg. Tanzend bewegt verwandelte von Siebental den Stapel in eine Schlange. Nachdem ihr durch immer grenzwertigere Biegungen ein Eigenleben verliehen wurde, fanden beide Enden mit einer kühnen Wendung zueinander, so dass sich die gebogene Säule zu einem Kreis schloß. Es entstand das Symbol einer sich selbst verzehrenden Schlange, die für die sich permanent erneuernde Zeit steht.

Anna von Siebenthal: Metamorphosen, Foto: Autor, VG Bild-Kunst, Bonn 2025

„Ich freue mich auf die Rente, damit die Geldsorgen endlich aufhören.“, sagte Robert Steijn. Als weltweit tätiger Performer weiß er, was es bedeutete, über Jahrzehnte mit schwankenden Einnahmen materiell zu bestehen. Für seine Aktion zog er Relikte aus dem kleinen Gepäck eines Weltreisenden und Wanderers zwischen unterschiedlichen Kulturen und Milieus. Hell und leise wie ein Windspiel erklangen die auf eine Kette gereihten zarten Knochen. Der Titel seiner Performance Hölzerne Schultern wurde begreifbar, als er mit einem Hilfsgeist in Gestalt einer Puppe mit Armen aus Ästen gestikulierte und ihn die Geschichte der Heilung eines Schulterbruchs moderieren ließ. Als weitere Requisiten drapierte er eine goldene Folie und eine weiße bestickte Decke als Symbole für Sonne und Mond auf dem Boden. Mit kosmischen Symbolen rückte er seine Aktionen in einen magischen Kontext, der dem archaischen Wissen entstammt.
In St. Gallen und später in Amsterdam, wo Steijn heute lebt, muss sich bewähren, was als immaterielles Erbe die Widerstandskraft der mexikanischen Waldbewohnern stärkt. Dieser Dialog mit dem Archaischen ist eine Utopie seit den Anfängen der Performancekunst und macht deutlich, dass Alter und Früchte des Lebens weit über die Vergangenheit eines individuellen Lebens hinaus und in eine Zukunft hinein reichen.

Robert Steijn, Hölzerne Schultern, Foto: Autor, VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Das Projekt Dance me to the end brachte Gisa Frank, Angela Stöcklin, Jeanette Engler, Tina Mantel, Anna Huber, Ivan Wolfe, Katharina Vogel und Angelika Ächter zusammen. Diese Tänzer*innen schöpften aus ihrer langen Tanzpraxis und schafften in acht Sequenzen spielerische Momente von Übereinstimmung und Dissonanz, von Entgegenkommen und Aufeinanderprallen, Tragen und Abwerfen, Einschluss und Ausschluss. Das Produkt gegenseitiger Herausforderungen vervielfachte die individuelle Präsenz zu einer Choreografie des Atmens. Sich ausdehnend und zusammenziehend formierten sich die acht tanzenden Individuen zu unerwarteten Konstellationen, bis die individuelle Dynamik sie wieder auseinandertrieb.

Dance me to the End, Foto: Autor, VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Gesten und Bewegung als Folge von Schichtungen verstehen

Zusammenfassend lohnt es sich, noch einmal auf die Vorstellung von Schichtungen als eine Folge von Ablagerungen zurückzukommen. Wovon in der Geologie im materiellen Sinne geredet wird, kann auch wie in der Informatik oder Soziologie als konzeptuelle Dimension, nämlich als Stratifikation, gedacht werden. Wie im Gestein die Schichtungen Informationen über die Erdzeitalter in sich tragen, so stellt man sich die Erinnerung als Summe von Ablagerungen aus Erfahrungen im Gewebe des Gehirns, an den Nerven und anderer Körperfasern vor, die so als Speicher das Erlebte, Nachgeahmte und Geübte vorhalten. Hier sind zeitlich und plastisch Möglichkeiten von vielfältigen Äußerungsmöglichkeiten auf Abruf vorhanden, die es uns erlauben, spontan auf schon vorhandene Erfahrungen zurückzugreifen. Sie bilden ein Band zwischen uns und unseren Vorfahren und Vorläufern, das bis in die Gegenwart reicht, um in die Zukunft zu wirken. Die Performances des Festivals in der Lokremise in St. Gallen hätten dann solche Schichten, die sich im Laufe des Älterwerdens an Gesten, Ritualen, Bewegungen, Haltungen, Kommunikationsweisen etc., abgelagert haben, erkundet.

Anmerkungen und Literatur

Die Verschriftlichung der Eindrücke des Autors folgt nicht in allen Punkten dem Programm der beiden Festivaltage.

Hans Peter Duerr: Sedna oder die Liebe zum Leben, (Suhrkamp) Frankfurt am Main 1984

Richard Schechner: The Future of Ritual, (Routledge) London 1994

Richard Schechner: Theaterantropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich, (Rowohlt) Reinbek bei Hamburg 1990

Fruits of Life. Das Alter und der Tanz, hg. von Renee Schmalz und Gabriella Gombas, (ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVWXYZ) Diessenhofen 2024

The Aging Body in Dance, ed. by Nanako Nakajima and Gabriele Brandstetter, (Routledge) Abingdon 2017

Dare to Do the Impossible in Art and Life ——- R.I.P. Tatsumi!

Johannes Lothar Schröder on the death of Tatsumi Orimoto (1946-2025)

Tatsumi Orimoto resting in a chair from China collected by Ai Waiwai at documenta 12, Kassel 2007
Photo: (c) johnicon (VG-Bild-Kunst, Bonn 2025)

Tatsumi Orimoto was a renowned Japanese artist who was born in Kawasaki City in 1946, where he died in 2025. He has worked internationally as a conceptual and performance artist, using photographs, drawings, posters, and mail art to announce and represent his ephemeral works. While studying in New York City, he assisted Nam June Paik and undertook public interventions there under the influence of Fluxus.

From his studio in Kawasaki, Orimoto initiated performances that revolved around carrying objects and communicating with animals such as chickens and pigs. His work „Carrying a Pig“ exemplifies this dual approach to interaction with objects and living beings.

Tatsumi Orimoto: Carrying a Baby Pig on my Back, Tojama-Farm, Juni 13, 2012, Poster (c) ART-MAMA Foundation

Since the 1980s, Orimoto has traveled extensively through China, Indonesia and India. In remote regions, he interacted with people who were experiencing the transition from an agrarian to an industrial society. He explored attitudes and behaviors through objects such as bracelets and ear clips, which he designed for communication purposes. For example, he attached ear clips to  people’s ears so that they could be visibly connected to other people via a wire.

For photo of: Communication Art „Pull to Ear“, Varanasi, India, 1987 scroll down for German version

Later, Orimoto gained notoriety for covering his own head and the heads and faces of others with bread. He organized groups of people whose heads and faces were covered with numerous loaves of bread and baguettes, and led them through streets, public squares, museums, trains, etc., throughout America and many European countries.

Bread-Men in Berlin, Postfuhramt 2007. Photo: (c) johnicon (VG Bild-Kunst, Bonn 2o25)

The cooperation with his mother and the people in the district also attracted a lot of attention. By incorporating them into his work, Orimoto gained attention not only in the art world, but also among doctors and therapists, recognizing his efforts to include people with Alzheimer’s and depression in social life.

Tatumi Orimoto: Small Mama + Big Shoes, Kawasaki 1997, Courtesy of the artist (Art Mama Foundation)

For Tatsumi Orimoto: Art + Medical Care: Collaboration Work with Alzheimer People, 2002, Katsuhira-en, Akita City, Japan scroll down to German version

Throughout his life, he drew while traveling, especially at airports, and after his daily duties in a local bar. The themes of these drawings revolve around violence, sexuality, living together in bathrooms, shops and at fairs. Orimoto was interested in fear and the dynamics of individuals and families in conflict situations.

Tatsumi Orimoto: untitled (airport drawing) Yokohama-City 2004